Plakat "Des Kaisers Dank"
Die Geschichte begann mit einer E-Mail. Ihr Verfasser war Armin Geiger aus Wuppertal. Er hatte im Internet nach jemandem gesucht, der sich für die Familie Gotthelft interessierte, und so den Weg auf meine Seite mit ihrem Kontaktformular gefunden.
Armin schrieb, dass er mir gerne ein Plakat überlassen würde, das in der Druckerei der Gotthelfts im Jahr 1914 das Licht der Welt erblickt hatte. Ich staunte nicht schlecht, als ich das Foto betrachtete, das Armin seiner Mail angefügt hatte. Im Laufe der vielen Jahre, die ich mich mit den Gotthelfts beschäftige, habe ich einige Drucke der Familie gesehen und in der Hand gehabt – diesen jedoch kannte ich noch nicht.
Geradezu sensationell lasen sich die Umstände, unter denen Armin auf das Plakat gestoßen war. Um die Jahrtausendwende hatte er auf einem Flohmarkt ein Gemälde erworben. Nicht die mittelmäßige Zeichnung gab den Ausschlag zum Kauf, sondern der prächtige Rahmen. Als Armin zuhause die Rückwand abnahm, befand sich zwischen ihr und dem Gemälde etwas sorgsam Verschnürtes, das dort nicht hingehörte. Er staunte nicht schlecht, als er das Papier vorsichtig auseinanderschlug und dabei das Plakat zum Vorschein kam.
Dieses war offensichtlich bewusst hinter dem Gemälde verborgen worden. Wäre es nur als stabilisierendes Element gedacht gewesen, hätte es einer schützenden Verpackung nicht bedurft. Bevor ich den möglichen Gründen nachgehe, weshalb das Plakat versteckt worden sein könnte, zunächst einige Informationen zu ihm.
Mit der künstlerischen Gestaltung des Plakats war der Kasseler Maler und Grafiker Ferdinand Gild (1879–1940) beauftragt worden. Er schuf es exklusiv für den Kunstverlag Rehm & Linzen am Kaiserplatz 31. Gild war in Kassel eine regionale Größe. Zu seinem Oeuvre gehörten hessische Landschaften und Orte, Akte, Porträts, Stillleben und Buchillustrationen. Die Herstellung übernahm die Druckerei Gotthelft, Abmessungen nennen, in vier Farben auf etwa zwei Millimeter starkem Karton – ein ausgesprochen hochwertiges Produkt.
Das Plakat kam im Herbst oder Winter 1914 auf den Markt, also wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Es erinnert an die
Kabinettsordre vom 22. August 1914, mit der Kaiser Wilhelm II. die Eisenbahnen der deutschen Länderbahnen für ihre außerordentliche Leistung bei der Mobilmachung lobte. Innerhalb weniger Tage hatten die deutschen Bahnen Millionen Soldaten, Pferde, Geschütze und Material an die Fronten transportiert. In Preußen allein wurden über eine Million Soldaten planmäßig in Marsch gesetzt – eine logistische Meisterleistung, die von der Zeitgenossenschaft als Beweis deutscher Organisation und Disziplin gefeiert wurde.
Im Zentrum des Plakats steht der Wortlaut der Ordre:
Seine Majestät der Kaiser
hat folgende Kabinettsordre erlassen:
Mobilmachung und Versammlung des Heeres an den Grenzen sind vollendet. Mit beispielloser Sicherheit und Pünktlichkeit haben die deutschen Eisenbahnen die gewaltigen Transportbewegungen ausgeführt. Damit haben sie, zunächst der Männer, die seit dem Kriege 1870/71 in ruhiger Arbeit eine vorbildliche Organisation aufgebaut haben, die nunmehr ihre erste Probe glänzend bestanden hat. Allen denen aber, die ihrem Rufe folgend mitgewirkt haben, das deutsche Volk in Waffen auf den Kampf gegen den Feind entgegenzuführen, insbesondere den Linienkommandanten und Bahnkontrollbehörden, den deutschen Eisenbahnverwaltungen vom ersten Beamten bis zum letzten Arbeiter spreche Ich für treue Hingabe und Pflichterfüllung Meinen Kaiserlichen Dank aus. Die bisherigen Leistungen geben Mir die sicherste Gewähr, daß die Eisenbahnen auch in weiterem Verlaufe des großen Kampfes um des deutschen Volkes Zukunft jederzeit den höchsten Anforderungen der Heeresführung gewachsen sein werden.
Großes Hauptquartier,
den 22. August 1914.
gez. Wilhelm
I. R.n.
Gild rahmte den Text mit einer dichten
Lorbeer-Girlande, Symbol des Sieges und der Treue. Über ihr thront ein mächtiger
Adler, wohl eine Anspielung auf das preußische Wappentier; rechts davon ruht die
Kaiserkrone. Um den patriotischen Gestus des Plakats zu steigern, ergänzte Gild zwei große
Fackeln, die – in Anlehnung an römische Triumphdarstellungen – Ruhm, Opfer und ewiges Andenken symbolisieren. Der Bezug zur Eisenbahn wird durch das geflügelte Rad am unteren Rand hergestellt – ein seit dem 19. Jahrhundert gebräuchliches Symbol der Bahnverwaltungen in den deutschen Ländern. Es wurde unter anderem von der Preußisch-Hessischen Staatseisenbahn geführt.
Als der Kunstverlag Rehm & Linzen das Plakat auf den Markt brachte, herrschte in weiten Teilen Deutschlands noch Kriegsbegeisterung. Das Motiv traf den Nerv der Zeit und dürfte sich häufig verkauft haben – dafür spricht, dass gleich mehrere Exemplare ins DB Museum Nürnberg gelangt sind und dort aufbewahrt werden.
Das Plakat ist ein Zeugnis für das Geschäft mit dem Krieg. Während an der Front Soldaten zu Zehntausenden starben, wurden in der Heimat massenweise heroïsierend-verharmlosende Wandkalender, Plakate, Postkarten, Theaterstücke, Lieder, Bücher und Kinofilme produziert. Sie fanden reißenden Absatz bzw. Zuspruch. Am großen Verdienen beteiligten sich gleichermaßen nichtjüdische und jüdische Deutsche. Künstler. Verlage und Druckereien wie Gild, Rehm & Linzen und die Gotthelfts stehen exemplarisch für die vielen, die vom Krieg wirtschaftlich profitierten – teils aus Überzeugung, teils aus Kalkül.
Bei den Gotthelfts dürfte es eine Mischung gewesen sein: Sie waren geschickte Geschäftsleute und kaisertreu. Noch im Oktober 1918 rechtfertigten sie in ihrer Zeitung, dem Kasseler Tageblatt, die Monarchie, den Krieg und den Kaiser – bis zu einem bösen Erwachen, über das ich an anderer Stelle berichten werde.
Artikel von Carl Gotthelft zum Geburtstag von Kaiser
Wilhelm II. Erschienen am 27. Januar 1918 im
Kasseler Tageblatt.
Das Plakat Des Kaisers Dank war für die Präsentation im privaten Raum gedacht, im bürgerlichen Wohnzimmer oder Salon – als sichtbares Zeichen patriotischer Gesinnung und Zustimmung zum Krieg. Vielleicht war der ursprüngliche Besitzer von Armins Exemplar tatsächlich ein Eisenbahner, der in Verwaltung oder Fahrdienst zu jener Leistung beigetragen hatte, die der Kaiser in seiner Ordre lobte.
Jedoch: Später aber muss eine Situation eingetreten sein, in der es dem Besitzer nicht mehr opportun, ja sogar gefährlich erschien, das Plakat weiter offen zu zeigen. Eine solche Situation trat nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein. Im November 1918 ging die Monarchie unter, und Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen die Macht.
Die Stimmung war revolutionär, der Hass auf alles Militärische und Monarchische groß. In vielen deutschen Städten kam es zu Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Übergriffen auf Vertreter des alten Regimes. In dieser Atmosphäre dürfte ein Plakat mit kaiserlichem Wappen, Lorbeerkranz und Fackeln als Symbol der alten Ordnung schnell gefährlich geworden sein – ein triftiger Grund, es sorgsam hinter einem Gemälde zu verbergen.
Dass der Besitzer das Plakat in dieser Weise dem Blick der Öffentlichkeit entzog, zeigt die Bedeutung, die es für ihn besaß: Es war ihm mehr als ein Stück Papier: Es stand für eine vergangene Ordnung, die ihm viel bedeutet hatte und jäh zusammengebrochen war. Und es stand für eine persönliche Leistung, die ihn mit Stolz erfüllte und von der neuen Zeit nicht mehr gewürdigt wurde. Da er sich vom Plakat nicht trennen, es schon gar nicht vernichten wollte, verbarg er es auf die oben beschriebene einfallsreiche Weise.
Er hoffte wohl, es eines Tages wieder gefahrlos hervorholen zu können – wenn Ruhe eingekehrt wäre und die Zeiten sich gewandelt hätten. Doch dazu kam er nicht mehr. So verblieb das Blatt für acht Jahrzehnte in seinem Versteck, bis es von Armin Geiger gefunden wurde. Ihm gilt mein herzlicher Dank für die großzügige Überlassung dieses seltenen Stücks. Es wird in meiner Gotthelft-Sammlung einen Ehrenplatz erhalten.
Meine kleine Serie über Gotthelft-Fundstücke setze ich 2026 fort. Der zweite Teil widmet sich einer Komposition, die von den Gotthelfts verlegt wurde. Die Zusendung des Notenmaterials verdanke ich Frau
Heike Meier.


