Urahnen

Schutzjuden und Hoffaktoren

„Daß der hiesige Schutzjude Abraham Hertz sich bis hierher jederzeit und allenthalben rechtschaffen betragen und in allen ihm anvertrauten Geschäften als ehrlicher Mann gezeigt habe, solches wird ihm hierdurch aus Verlangen bescheinigt."

Cassel, den 15. März 1799, Frhr. v. Veltheim, Landgräfl. Hessischer Ober- und Hof-Marschall.

Die Anfänge der Familie Gotthelfts reichen Jahrhunderte zurück. Der erste urkundlich belegte Vorfahre der Familie ist der um 1670 geborene Isaac Itzig Moses. Ihm wurde am 16.1.1698 von der Kanzlei des Friedrich Adolf Grafen zur Lippe-Detmold ein Schutzbrief ausgestellt. Einen solchen besaß auch sein Sohn Salomon Itzig. Das Dokument, datiert auf den 22.11.1736, nennt als Schutzherrin Johanna Wilhelmine Fürstin zur Lippe, die die Grafschaft nach dem Tode ihres Gatten in Vormundschaft für den noch nicht erwachsenen Thronfolger regierte. Beide Vorfahren der Familie Gotthelft, Isaac und Salomon, besaßen also den Status von Schutzjuden.
Die ersten Zeugnisse zur Familie Gotthelft sprechen davon, dass Juden in Deutschland noch im Zeitalter der Aufklärung unter jahrhundertealten Vorurteilen zu leiden hatten. Sie bildeten das Fundament für individuelle handgreifliche und verbale Demütigungen sowie systematische Schikanen und Zurücksetzungen durch Gesetze. Durch einen Ring, Kreis oder einfachen Flecken aus gelbem Stoff, den sie auf ihrer Kleidung sichtbar zu tragen hatten, ließen jüdische Deutsche sich im Alltag als Angehörige einer verachteten Randgruppe identifizieren. Der Leibzoll, den sie beim Überqueren einer Territorialgrenze am Schlagbaum zu entrichten hatten, war nur eine jener zahlreichen Abgaben, die eine christliche Obrigkeit ausschließlich von jüdischen Deutschen einforderte. Diese empfanden den Leibzoll als besonders schmachvoll, da die Begrifflichkeit auch eine Abgabe bezeichnete, die auf zollpflichtiges Vieh beim Transport über eine Landesgrenze zu entrichten war. Darüber hinaus erschwerten Be- und Einschränkungen u. a. bei der Wahl des Berufs und des Wohnorts das Leben jüdischer Deutscher. Die  Justiz urteilte über sie oft strenger als über Christen und die Grausamkeit der Hinrichtungen wurde gesteigert, z. B. indem der Delinquent mit dem Kopf nach unten erhängt wurde, was ein qualvolles, sich oft über Tage hinziehendes Sterben bedeutete. Die zwei lebenden Hunde, die links und rechts des Verurteilten aufgehängt wurden, beinhalteten dieselbe Aussage wie die doppelsinnige Verwendung des Begriffs Leibzoll: Juden seien keine den Christen gleichwertigen Menschen und hätten mit diesen genauso wenig gemein wie Tiere. 
Von gesetzlichen Be- und Einschränkungen befreiten Schutzbriefe, wie Isaac Itzig Moses und sein Sohn Salomon Itzig (geboren ca. 1700) sie besaßen: Schutzbriefe billigten ihren Inhabern Wohn- und Aufenthaltsrecht zu, sie erlaubten geschäftliche Betätigung in Bereichen, die jüdischen Deutschen qua Gesetz verboten waren. Darüber hinaus stellten die Briefe ihre Träger unter den Schutz des Landesherren und bewahrten sie so – oft, aber nicht immer – vor judenfeindlichen Beleidigungen, Tätlichkeiten oder Gewaltakten. Die Wirksamkeit mancher Briefe beschränkte sich auf den Inhaber, andere bezogen die Familienangehörigen und das Hausgesinde ein. Die Gültigkeitsdauer von Schutzbriefen konnte auf wenige Jahre befristet sein oder bis zum Tode ihres Inhabers reichen. Den Status eines Schutzjuden bewilligte der Landesherr nicht aus altruistischen Gründen: Der Schutzbrief musste mit einem Aufnahmegeld erkauft werden, an das sich oft jährliche Zahlungen anschlossen.
Nicht nur für diese geschichtliche Situation geben die Vorfahren der Gotthelfts  beispielhaft: Hertz Salomon (geboren um 1725), der Sohn von Salomon Itzig, war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Hoffaktor tätig, der den hessischen Fürsten Simon August Graf zur Lippe-Detmold mit Gebrauchs- sowie Luxusgütern versorgte und ihm Kapital zur Verfügung stellte. Dies geht aus der Urkunde hervor, mit der Hertz Salomon am 14.4.1775 zum Hoffaktor ernannt wurde. Der Gotthelftsche Vorfahre gehörte also zu jenen jüdischen Deutschen, die im 17. und 18. Jahrhundert Fürsten als Finanziers dienten und ihre bedeutendsten Vertreter in Samuel Oppenheimer (1630-1703), Leffmann Behrens (1634-1714), Samuel Wertheimer (1658-1724) und Behrend Lehmann (1661-1730) hatten. Im Gegenzug für ihre Verdienste erhielten sie den Titel Hoffaktor, mit dem fürstlicher Schutz und die Protektion ihres Gewerbes verbunden waren, dessen Erfolg auch dem Landesherrn zugutekam, den sie mit Waren und Kapital zu versorgen hatten. 

So verhielt es sich auch bei Hertz Salomon. Seine Ernennung zum Hoffaktor geschah „in Betracht der von ihm bisher zu unserm gnädigsten Wohlgefallen so wohl für unsern Hoffstaat […] besorgte und auch weiter übernommene Waaren Liefferung, und in Rücksicht auf das gethaene Versprechen, zu gedachtem Meinberg eine Boutique bauen zu lassen.“ Meinberg war damals ein noch unbedeutendes Dorf, das der Graf zu einem Heilbad entwickeln wollte. An dem ambitionierten Projekt sollte Hertz Salomon sich auf eigenes Risiko beteiligen.
Ernennungurkunde für Hertz Salomon, Leo  Baeck Institute New York, Fritz R. Katzenstein Family Collection
Die oft mehrere Jahrzehnte währende Zusammenarbeit führte jedoch selten dazu, dass der Landesherr seinen Hoffaktor als Mensch anerkannte oder wertschätzte. Oft wurde ein Hoffaktor von seinem Dienstherren nur als notwendiges Übel betrachtet, als verachtenswerter Jude, den er ebenso verabscheute wie dessen Glaubensbrüder. Die landläufigen Vorurteile, Ressentiments und Gehässigkeiten spiegeln sich im Testament eines hessischen Fürsten wider, der seinen Sohn dazu auffordert, „sich vor den Juden vorzusehen[n]. Denn sie sind ein müßig und unnützes Volk […]. Sie saugen die Christen aus, lästern, schänden und schmähen den Sohn Gottes [...] aufs greulichste und verunehren Gott mit ihrem täglichen, abergläubischen Gebet.“ Im Umgang herrschten – nicht immer, aber oft – Herablassung, Willkür, auch Handgreiflichkeit, der Geschäftspartner war einfach „der Jude“. Mit dem Tode des Fürsten erloschen Schutz und Protektion, so dass auf manchem Hoffaktor sich die Wut und Feindseligkeiten entluden, die sich in der Hofgesellschaft und im Volk aufgestaut hatten, weil er als die Wurzel unliebsamer Maßnahmen angesehen wurde – und nicht der Landesherr, in dessen Diensten oder Auftrag er gehandelt hatte. Joseph Süß Oppenheimer (1698/99-1738), aufgrund der dichterischen Verarbeitung seines Schicksals durch Wilhelm Hauff und Lion Feuchtwanger der bekannteste Hoffaktor, wurde nach dem Tode seines fürstlichen Dienstherrn verhaftet und nach einem Scheinprozess hingerichtet. Die Exekution fand auf besonders perfide Weise statt, die Stimmung unter den fast 20.000 Zuschauern hätte auch auf einem Volksfest herrschen können. Für die Schaulustigen waren Tribünen angefertigt worden, aus Buden heraus verkauften Händler Bier, Wein und Schmähschriften auf den Verurteilten, dessen sterbliche Überreste für sechs Jahre in einem Käfig ausgestellt wurden, "den Raben zum Fraß", wie es in einem zeitgenössischen Bericht hieß.
 Auf der oben abgebildeten Urkunde findet sich ein weiterer Eintrag. Er datiert auf den 15. März 1799 und bestätigt Abraham Hertz (1757–1824), dem Sohn des Hertz Salomon, den Status eines Schutzjuden. Darüber hinaus stellt sie ihm einen hervorragenden Leumund als Hoffaktor aus: „Daß der hiesige Schutzjude Abraham Hertz sich bis hierher jederzeit und allenthalben rechtschaffen betragen und in allen ihm anvertrauten Geschäften als ehrlicher Mann gezeigt habe, solches wird ihm hierdurch aus Verlangen bescheinigt." Als Abraham knappe 15 Jahre später erneut ein Leumundszeugnis anforderte, bezeichnete ihn dieses nicht mehr als Hoffaktor sondern als Hofagenten. Und: Auf ihm lautete sein Name nicht mehr Abraham Hertz sondern Abraham Gotthelft. Wie es zu dem Namenswechsel kam, welcher große Schritt hin zu einer Gleichberichtigung der Juden in Hessen mit ihm verbunden war und welche wichtige Rolle das folgende Dokument dabei spielte, erzählt der Schluss des Kapitels, der am 15.09. online geht :-)
Behördliche Aufstellung jüdischer Familienoberhäupter und ihrer Angehörigen aus dem Jahre 1812. 
Quelle:
Hessisches Staatsarchiv Marburg.