Aus guter alter Zeit
Meine lieben Kinder und Enkel!
Ich komme Eurem so häufig geäußerten Wunsche nach, die Erinnerungen aus meiner Jugend für Euch niederzuschreiben. Es ist auch die höchste Zeit; gemächlich nähere ich mich dem biblischen Alter, und da muß man, wohl oder übel, Vorsätze so schnell wie möglich ausführen.
Diese Aufzeichnungen sind natürlich nur für Kinder, Enkel und weitere Abkömmlinge, nicht für fremde Personen bestimmt. Sie erheben keinen Anspruch auf literarischen Wert, aber sie sollen Euch gerade in der heutigen Zeit, in der man wieder so bescheiden wie nur irgend möglich leben muß, zeigen, daß man auch mit wenigem zufrieden und glücklich sein kann.
Ein Bild aus der guten alten Zeit wird Euch ausgerollt, einer bescheidenen, einfachen und zufriedenen Welt, in der – wie vor 50 Jahren – die Menschen ohne Klassen- und Massenhaß, ohne Telephon und Autos harmonischer und zufriedener mit- und untereinander lebten und wirtschafteten als heute.
Und wenn man dann noch bedenkt, wie schnell diese Jahre dahingegangen sind, dann erwägt man unwillkürlich: Wäre es nicht besser und für jeden einzelnen befriedigender, wenn er in der kurzen Spanne seines Menschenlebens lieben, dulden und verzeihen würde, anstatt ihn zu bekämpfen – oder gar, wie es in dem soeben beendeten Kriege der Fall war, zu ermorden?
Die Welt ist schön, aber sie könnte noch viel schöner sein, wenn die gesamte Mitwelt sich zu dem biblischen Grundsatz bekennen und ihn durchführen würde:
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Was helfen alle Religionsgemeinschaften, ethische Vereinigungen, Logen und dergleichen, solange der Haß und sonstige häßliche Eigenschaften den Menschen beherrschen!
Ob man nach Jahrhunderten bis zu diesen Idealen durchdringen wird – wer weiß dies?
Richard Gotthelft
Dir, liebe Annie, der treuen langjährigen Freundin meiner Tochter Maria, in aller Freundschaft überreicht von, Richard Gotthelft
Cassel, 1. April 1923.
Handschriftliche Widmung in meinem Exemplar der Lebenserinnerungen. 10 Jahre und 2 Monate später
nahmen sich Richard Gotthelft und seine Frau Selma unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Greueltaten das Leben.
Inhaltsverzeichnis
- Der Ur-Ur-Ahn
- Die Großeltern Gotthelft
- Die Großeltern Rosenstein
- Mein Elternhaus
- Familie Carl Gotthelft
- Die Mittelgasse
- Die Firma Gebrüder Gotthelft

